Junge Welt - Sand im Getriebe |
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Erwerbslose wehren sich immer heftiger gegen Sozialschikanen. Ziviler Ungehorsam mit phantasievollen und bunten Aktionen
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Seit Monaten läuft das mediale Trommelfeuer gegen wachsenden »Mißbrauch« der Bezüge von Arbeitslosengeld (ALG) II. Statistische Belege gibt es dafür zwar keine - statt dessen weist die »Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2005« einen Rückgang der registrierten Fälle von »Sozialbetrug« um 8,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr aus. Die von den Sozialschnüfflern für 2005 in Erfahrung gebrachten angeblichen 28932 Fälle nehmen sich überdies relativ bescheiden aus gegenüber den im gleichen Jahr festgestellten 89224 Fällen von Wirtschaftskriminalität. Und deren Rate stieg im Vergleich zum Vorjahr um zehn Prozent - seit 1993 hat sich laut Statistik die Zahl der Wirtschaftsdelikte damit fast verdoppelt!
Doch wen interessieren schon Fakten und Zahlen, wenn es darum geht, den unterprivilegierten Schichten der Gesellschaft auch noch das Letzte zu nehmen? Denn daß selbst die totale Streichung aller Leistungen den Millionen Hartz-IV-Empfängern keine Jobs bringt , müßte selbst dem dümmsten Hinterbänkler in den CDU/CSU-Reihen im Bundestag klar sein.
Inzwischen mehren sich in den Medien auch besorgte Stimmen - daß nämlich die Opfer der Hartz-IV-Verschärfung diese neue Welle der sozialen Repression möglicherweise nicht einfach hinnehmen könnten. In der Tat mehren sich seit dem Abebben der großen Proteste im Jahre 2004 militante Anschläge auf Ideologen und Vollstrecker der neuen sozialen Grausamkeiten. Mehrfach wurden bei Unternehmen, die Zwangsumzüge von Hartz-IV-Empfängern umgesetzt hatten, Autoreifen durchstochen oder die Fahrzeuge in Brand gesetzt. Arbeitsagenturen, Jobcentern und privaten Vermittlern wurden die Scheiben eingeworfen - besonders unbeliebten Managern der PKW abgefackelt.
Ein großer Teil dieser Anschläge geht - laut Bekennerschreiben - auf das Konto der »autonomen gruppe«, die sich in der Tradition der »Arbeiterautonomie« im Italien der 70er Jahre sieht. Deren Konzept ist allerdings dort ebenso gescheitert wie wenig später das der militanten Linken in der alten Bundesrepublik.
Daß man den Widerstand gegen die mit Brachialgewalt vorangetriebene soziale Repression auch bunt und phantasievoll gestalten kann, zeigen die Aktionen der »Überflüssigen«. Beispielsweise platzten diese am 29. November vorigen Jahres unerwartet in die Veranstaltung des »Unternehmerverbandes Gesamtmetall« hinein, eroberten das Mikrophon und gestalteten die Preisverleihung zum »Reformer des Jahres« nach ihren eigenen Vorstellungen um. Bei einer anderen Aktion wurde Exsuperminister Wolfgang Clement in seinem privaten Wohnsitz in Bonn um 5.00 Uhr früh außerplanmäßig aus dem Schlaf gerissen. Unerwarteten Besuch bekam letzten Sommer auch der führende »Wirtschaftsweise« Bert Rürup: bei einem Festbankett wurde ihm anläßlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes eine Menükarte mit Gegenüberstellung der durchschnittlichen Bezüge eines Hartz-IV-Empfängers und dem Preis der Speisen überreicht. Die bisher letzte Aktion der »Überflüssigen« fand am 22. Mai in Wuppertal statt, wo sie aus Protest gegen die Forderung führender Vertreter der Sozialverbände, den Sockelbetrag von Hartz IV zu kürzen, kurzerhand den Eingangsbereich einer dortigen Filiale der Arbeiterwohlfahrt blockierten.
Diese Versuche, mittels zivilen Ungehorsams Sand ins Getriebe der neoliberalen Reformen zu streuen, zeugen vom Entstehen einer neuen linken Basisbewegung. Eine solche tut ebenso bitter not wie die massenhafte Mobilisierung von Betroffenen auf die Straße. Sollte es in den nächsten Monaten nicht gelingen, einen breiten und bunten Protest gegen die neuerliche Eskalation sozialer Grausamkeiten zu organisieren, ist für den kommenden Herbst das Schlimmste zu erwarten: Die kürzlich beschlossene Verschärfung der Hartz-Gesetze geht den meisten Bundespolitikern noch nicht weit genug. Aus den Reihen der CDU/CSU ist ganz offen die Forderung nach einer weiteren Kürzung der Hartz-IV-Bezüge zu vernehmen. Über einen bundesweiten Aktionstag während der Fußball-WM wird derzeit in verschiedenen Internet-Foren heftig diskutiert.
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Artikel in 'Junge Welt' vom 3. Juni 2006
Sand ins Getriebe
Quelle - www.jungewelt.de
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Aktualisiert Dienstag, 27. Juni 2006 3074 Mal gelesen |
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